Virtuelle Entwicklung

14.06.2019

Virtuelle Entwicklung

Wir leben in Zeiten des massiven digitalen Wandels. Die Herausforderung in der Forschung und Entwicklung dabei ist, aus den vielen Möglichkeiten die richtigen digitalen Methoden für unsere spezifischen Bedürfnisse zu finden. Denn Datenanalyse, Modellierung und Simulation sind kein Selbstzweck. Sie müssen neue und leistungsfähigere Produkte in kürzeren Entwicklungszeiten ermöglichen.

Der Nutzen digitaler Tools für die Entwicklung neuer Schmierstoffe ist groß. Sie ermöglichen Vorhersagen bisher unbekannter Vorgänge und Eigenschaften. Dadurch helfen sie nicht nur, kritische Betriebszustände in den zu schmierenden Geräten zu prognostizieren. Sie tragen auch erheblich zum tieferen Verständnis unserer Schmierstoffe bei. Beispielsweise sind extreme Bedingungen, wie sie in realen Maschinen auftreten, im validierenden Laborexperiment nicht oder nur begrenzt zugänglich. Mit Hilfe von Simulationsmethoden allerdings lassen sie sich heute abbilden oder extrapolieren. So können wir unsere Produkte noch besser auf die Anforderungen unserer Kunden abstimmen – das heißt aktuell vor allem: Reibung und Energieverbrauch in Maschinen weiter zu reduzieren und so ihre Effizienz zu erhöhen.

Ein weiterer großer Vorteil der Computersimulation zeigt sich in der „virtuellen“ Bewertung alternativer, bisher noch nicht verfügbarer Rohstoffe, deren Einsatz eventuell erfolgversprechend wäre. Teure Experimente nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ können sich so erübrigen, Entwicklungszeiten verkürzt werden.

NEUE SCHMIERSTOFFE FÜR DIE E-MOBILITÄT

Auch unsere Kunden in der Automobilindustrie stehen vor vielfältigen neuen Herausforderungen. Der Wandel hin zur E-Mobilität ist dabei zentral. Der elektrifizierte Antriebsstrang wird eine tragende Rolle bei zukünftigen Verkehrskonzepten spielen – und damit die Kombination aus E-Motor und Getriebe. Solche Systeme verlangen nach anderen Schmierstoffen als ein Verbrennungsaggregat. Beispielsweise bietet es sich an, das Schmiermittel für das Getriebe und das Kühlmedium für Motor und Leistungselektronik in einem einzigen Produkt zu kombinieren. Besonders wichtig dabei sind die Verträglichkeiten mit Werkstoffen wie Kupfer, aber auch mit den hohen Temperaturen, die – bedingt durch hohe Drehzahlen und Leistungsanforderungen – in E-Motoren herrschen. All diese Bedingungen gilt es bei der Entwicklung der neuen Schmierstoffe zu berücksichtigen.

DER DIGITALE WERKZEUGKASTEN

Bei der Lösung dieser Entwicklungsaufgaben können die geeigneten digitalen Methoden äußerst gewinnbringend eingesetzt werden. Mit ihnen lassen sich die Eigenschaften unserer Schmierstoffe besser verstehen und diejenigen neuer Rezepturen teilweise sogar vorhersagen. Auch die Auswirkungen dieser Eigenschaften auf das Gesamtsystem können berechnet werden.

In der Forschung und Entwicklung bei FUCHS werden verschiedene digitale Werkzeuge genutzt. Darunter die Datenanalyse, die Chemoinformatik, mit deren Hilfe Moleküleigenschaften berechnet werden, oder die statistische Versuchsplanung. Immer wichtiger allerdings werden mit der rasant wachsenden Rechenleistung die Methoden der Modellierung und der Simulation. Dabei blicken wir, wie mit einer Lupe, immer tiefer in den virtuellen Schmierstoff hinein – so weit, bis schließlich in der Nanoebene, dem Bereich weniger Nanometer, die Moleküle und Atome erkennbar werden. Auf drei Größenebenen, bis hinunter zur Nanoebene, verfolgen wir diesen Ansatz: Auf der Makroskala (größer 10–3 m) simulieren wir das technische Aggregat, in der Mikroskala (etwa 10–6 m) den Schmierstoffspalt und am unteren Ende, in der Nanoskala (kleiner 10–9 m), die Moleküle.

Modellierungsansätze heute und morgen
Wir erforschen Schmierstoffe umfassend und auf allen Größen- und Zeitebenen: Vom Verhalten einzelner Moleküle in Bruchteilen von Sekunden bis hin zur Vorhersage anwendungstechnischer Eigenschaften über längere Zeiträume. Langfristig möchten wir über all diese Dimensionen hinweg die entscheidenden Einflussgrößen erkennen, wesentliche Wechselwirkungen zwischen ihnen verstehen und die zugehörigen Modellierungsansätze zu einer integrierten Methode kombinieren.

 

NANOSKALA: DAS BERECHNETE ADDITIV

Wie in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung bei FUCHS dabei auf der Nanoskala vorgegangen wird, zeigt ein aktuelles Entwicklungsprojekt aus dem Bereich der E-Maschinen: Zum Schutz vor frühzeitigem Verschleiß von Elektromotoren wurde einem ölbasierten Schmierstoff „virtuell“ ein sogenanntes Verschleißschutzadditiv zugegeben. Dieses Additiv wurde digital unter „Einsatzbedingungen“ simuliert. Unser Interesse lag dabei besonders auf dem Temperaturbereich, in dem das Molekül seine Wirkung entfaltet, auf dem Moment also, in dem es reagiert. Aber auch das Verhalten gegenüber Kupfer war wichtig.

Dazu wurde das Additiv mit sogenannten Ab-initio-Methoden in ein mathematisches Modell überführt. Gleichungen wurden mit modernsten Rechnern gelöst und damit die Eigenschaften des Additivs vorhergesagt. Diese Simulation half uns nicht nur, die Reaktionsweise des Additivs zu verstehen. Die digitalen Tools lieferten darüber hinaus Hinweise auf Moleküle mit verbesserten Eigenschaften – die dann mit konventionellen Mitteln synthetisiert wurden und sich nun in der Erprobungsphase befinden.

MIKROSKALA: DER SIMULIERTE SCHMIERSPALT

Derartige Berechnungen auf Molekülebene lassen sich – allen Fortschritten bei Hochleistungsrechnern zum Trotz – nicht unmittelbar auf unsere Erfahrungswelt ausdehnen. Hier würden wir über mehr als 1023 Moleküle sprechen, eine unvorstellbar große Zahl.

Durch vereinfachende Ansätze zum Molekülverhalten lassen sich aber dennoch digitale Simulationen „eine Stufe höher“ – bis in den Mikrometer-Maßstab (10–6 m) – realisieren. So können wir Vorgänge im Schmierspalt auf Mikroskalenebene beschreiben. Dadurch lassen sich Vorhersagen darüber treffen, wie sich dort die Reibung und das Verhalten der Oberflächen durch unsere Schmierstoffe und Additive verändern. Und es werden auch experimentell nur schwer erfassbare Messgrößen, wie zum Beispiel das Fließverhalten der Schmierstoffe unter extremen Drücken und hohen Schergeschwindigkeiten, „digital zugänglich“.

MAKROSKALA: SIMULATION AUF DER PRODUKTEBENE

Der Einsatz anwendungsspezifisch optimierter Schmierstoffe ist entscheidend, um die Zuverlässigkeit und Effizienz geschmierter Systeme sicherzustellen. Die Simulation auf der Makroebene umfasst das virtuelle Abbild einzelner Maschinenelemente, wie beispielsweise Verzahnungen und Wälzlager, bis hin zu Gesamtsystembetrachtungen.

Moderne Simulationslösungen und eine enge Zusammenarbeit mit Forschungspartnern erlauben es, relevante Kontakt- und Betriebsbedingungen unterschiedlicher Anwendungen zu identifizieren. Mit diesem Wissen können wir die notwendigen produktspezifischen Eigenschaften auf Modellprüfständen gezielt untersuchen und damit sicherstellen, dass unsere Produkte den gestellten Anforderungen gerecht werden.

Im Umkehrschluss entwickeln wir digitale Methoden, um beispielsweise das reibungsrelevante Verhalten unserer Produkte mit Berechnungsansätzen möglichst realitätsnah abbildbar und vorhersagbar zu machen. Damit wollen wir unseren Kunden ermöglichen, bereits in einer sehr frühen Phase der eigenen Systementwicklung relevante Wechselwirkungen zwischen Fluid und Anwendung zu erkennen, fundiert und verlässlich zu bewerten und damit optimal aufeinander abzustimmen. Diese Möglichkeiten erlauben ein virtuelles Vorab-Screening – und damit maßgebliche Verkürzungen und Optimierungen unserer Entwicklungsprozesse sowie der unserer Kunden.

KI ALS FORMULIERUNGSHILFE

Neben der Simulation gewinnt die Datenanalyse zunehmend an Bedeutung in der Forschung und Entwicklung. Auswertungen bereits durchgeführter Forschungsprojekte spielen hierbei eine ebenso wichtige Rolle wie die gezielte Planung von Experimenten (Design of Experiments, DoE). Mit Methoden, die beide Ansätze kombinieren, können Modelle für neue Schmierstoffformulierungen aufgebaut und Kundenwünsche in kürzeren Zeiten realisiert werden.

Mit sogenannten Clusterungsalgorithmen können wir darüber hinaus vielfältige Muster in Daten aus dem Einsatz unserer Schmierstoffe erkennen – und wertvolle Hinweise auf Ursache-Wirk-Mechanismen erschließen. Sind diese Mechanismen einmal verstanden, lassen sich damit – und in Kenntnis der eingesetzten Formulierungen sowie der chemischen Strukturen der Rohstoffe – neuronale Netze zur Vorhersage bestimmter Öleigenschaften trainieren. So setzen wir künstliche Intelligenz (KI) zur Schmierstoffentwicklung und -optimierung ein.

Die Digitalisierung ist ein Megatrend. Ihre Geschwindigkeit wird noch weiter zulegen. Neue Rechnergenerationen sowie verbesserte und schnellere Algorithmen werden immer bessere und effizientere Schmierstoffe möglich machen. Wer das Tempo in der Entwicklung vorgeben will, muss sie nutzen.